Der Todeskult des Wokeismus
Christoph Rohde: Die moderne Form feudaler Ungerechtigkeiten – Wokismus und seine Ausformungen (Review Essay zu Alexander Wendt: Verachtung nach unten.)
Daß gute Absichten noch lange nicht das Gute hervorbringen ist, eine allgemeine Erfahrung, die Menschen anerkennen, die eine realistische Anthropologie vertreten. Dass Gesinnungen oder Einstellungen für sich genommen noch keine Charakterbildung bewirken, ebenfalls. Deshalb sollten ideologische Phänomene theoretisch und empirisch kritisch unter die Lupe genommen werden. Dies ist in die Intention in diesem Beitrag, der das Phänomen der Wokeness als post-aufklärerische Verirrung in gesellschaftliche Kontexte einzuordnen versucht. Es zeigt sich, dass die aus akademischen Kreisen stammende Woke-Bewegung massiv zur Spaltung der Gesellschaft beiträgt.
Der Ursprung der Wokeness in der Bürgerrechtsbewegung
Die Absicht, ein Bewusstsein für Situationen sozialer Ungerechtigkeit herzustellen, ist in der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung unter dem Motto „sei achtsam“ entstanden. Der Versuch, auf die Praxis des weißen Rassismus gegen Schwarze vor allem in den amerikanischen Südstaaten hinzuweisen, war und ist ein legitimes Anliegen. Eine organisierte Widerstandsform entwickelte sich in den sechziger Jahren unter Martin Luther King zu einer friedlichen, christlich motivierten Emanzipationsbewegung; dem stand eine militantere, marxistisch beeinflusste Gruppe unter Malcolm X gegenüber. Letztere Gruppe bildet das Vorbild der moralisch kaum angreifbaren Gruppe Black Lives Matter (BLM), die nach dem Fall des durch übermäßigen Pollizeieinsatz getöteten Kleinkriminellen George Floyd Millionen Menschen gegen den Rassismus auf die Straße gebracht hat. Das Abdriften von BLM in gewalttätige Ausschreitungen, Plünderungen und sogar Tötungen teilweise von selber schwarzen Kritikern wurde als legitime Sache gerechtfertigt. Mit der #Metoo-Bewegung gegen die Benachteiligung von Frauen, radikalen Klimagruppen und einflussreichen LGBTQ-Gemeinschaften haben sich Gruppen gebildet, die scheinbar moralisch unanfechtbare, absolute Forderungen zur Veränderung bestehender ungerechter Verhältnisse an die Mehrheitsgesellschaft richten. Sie bewerten subjektive Empfindungen von angeblichen Diskriminierungen höher als rechtsstaatliche Verfahren und erachten Rechtsstaatsverstöße in Namen höherer Güter als legitim. Damit verliert der Rechtsstaat jede Berechenbarkeit und jede subjektive Wahrnehmung kann objektivierbare Faktoren ausschalten.
Der philosophische Boden für die Popularität des Woken
Dass Sprache automatisch zum Handeln führt, ist die intuitive Annahme der WokeBewegung. Symbolik ersetzt Substanz; Sprache wird zur Währung, mit der willkürliche Werte im Namen einer „sozialen Gerechtigkeit“ auf erpresserische Weise durchgesetzt werden sollen. Eine vulgarisierte Version von John Austins Sprech-Akt-Theorie steht paradigmatisch für diese Politik, die eine rationale Politik des prozedural erreichten Interessenausgleichs durch Verhandlungen und aktive Konsensfindung durch moralistische Forderungen und eine Politik der Symbolhandlungen und Sprachdiktate ersetzt. Sozialisten und Kommunisten, die beim Versuch, die sozioökonomischen Verhältnisse in den westlichen Industrieländern auf revolutionärem oder evolutionärem Wege zu verändern, kläglich gescheitert waren, entdeckten mit dem Feld der Gesellschaftspolitik eine neue Domäne, in der sie weit weniger angreifbar waren. Denn mit Hilfe sprachphilosophischer Annahmen, die messbare Wahrheiten durch relativistische, in temporären Diskursen zu ermittelnde „Wahrheiten“ ersetzten, wurden bürgerliche Leistungstugenden entwertet. Es gelang den linken Kräften, den Marsch durch die Institutionen, wie vom italienischen Marxisten Antonio Gramsci empfohlen, erfolgreich zu bestreiten. Keine Universität, kaum ein Medienhaus, fast jede öffentliche Verwaltung und nahezu jeder internationale Konzern, der sich nicht den Worthülsen der Weltoffenheit, Toleranz, der Buntheit und des Antirassismus sowie der Klimaneutralität verpflichtet fühlt. PR-Abteilungen konstruieren unangreifbare Images: Haltung ersetzt Handlung; die Folge ist eine Gratismoral. So bildet sich ein Bassin der „Guten“, die sich mit einfachen schablonenhaften Verlautbarungen moralisch auf die richtige Seite begeben können. Großkonzerne adaptieren die Konzepte, die an Universitäten und von NGOs als divers, ökologisch und tolerant vorgeschrieben werden; Regierungen und „zivilgesellschaftliche Akteure“ demonstrieren in Rousseauscher Einigkeit gegen den Feind, der immer rechts steht. Wie Alexander Wendt in seinem sehr lesenswerten Buch Verachtung nach unten zeigt, hat sich eine sehr effektive Allianz zwischen weltweit tätigen global playern und moralistisch organisierten NGOs ergeben. Beide Seiten profitieren von diesem Deal. Die knallhart profitorientierten Konzerne von Apple über Google bis zu Nike und Nestlé können ihre Gier moralistisch verschleiern, während in NGOs Menschen durch das multinationale Sponsoring Karriere machen können, die im privatwirtschaftlichen Sektor voraussichtlich kaum eine erfolgreiche Karriere gemacht hätten.
Die Identitätspolitik zieht neue Grenzen
Die Methode, Menschen als Mitglieder diverser Kollektive nach äußeren Merkmalen einzuteilen, von denen die meisten sich durch einen Opferstatus auszeichnen, führt zu einer Preisgabe der Errungenschaften der Bürgergesellschaft, die die Gesellschaft in gleichberechtigte Individuum einteilt, welche wiederum das Recht haben, frei gewählte Assoziationen zu bilden, die ihre Interessen vertreten. Die Voraussetzung für die Bildung von Gruppen ist, dass sie sich an die vom Rechtsstaat gesetzten übergeordneten Spielregeln halten, wie das der Begründer der Pluralismustheorie, Harold Laski, überzeugend formuliert hat. Die von woken Aktivisten propagierte Betonung der ethnischen, religiösen oder Rassengrenzen führt gerade zu der Diskriminierung, die man eigentlich bekämpfen wollte. Kritiker der Identitätspolitik sprechen hier von einem NeoTribalismus. Die Mitgliedschaft in diesen Gruppen ist gerade nicht frei gewählt. Für die Aktivisten dienen sie als Ankerpunkte für willkürliche Opfernarrative. Menschen aus diesen Opfergruppen sind apriorisch exkulpiert für Verstöße gegen das Menschenrecht nach westlichem Verständnis. Die Woken, die überall Rassismen und Menschenrechtsverletzungen wittern, tolerieren gewaltsame Praktiken der Frauenunterdrückung, Genitalverstümmelung, Ehrenmorde und andere Formen der Gewalt gegen Frauen. Der Islamismus wird zum kongenialen Alliierten linksextremer Kräfte.. Die Flucht iranischer Frauen aus dem Islam endet in übertoleranten westlichen Gesellschaften häufig im neuen islamischen Gefängnis der woke-toleranten Gesellschaft. Gewaltexzesse von Großfamilien werden als Folge sozialer Benachteiligung und Diskriminierung interpretiert und die weiße Mehrheitsgesellschaft für die Taten der Opfer verantwortlich gemacht. Die Willkür der Bewertungsmaßstäbe, die radikale Relativität der Werte (fast in Nietzsches Sinne die Umwertung aller Werte) führt dazu, dass Kritiker an der Wokeness allzu leicht als Verschwörungstheoretiker gebrandmarkt werden können. Zumal in der konformistischen Gruppe des politmedialen Komplexes eine diffuse Einigkeit im Sinne eines Herrschaft stabilisierenden volonté générale vorherrscht, die jede Kritik durch Diffamierung abwehrt.
Der große Feind: der erfolgreiche Westen
Der Hass auf den Westen, auf dessen Errungenschaften, auf seine Rationalität und Leistungsbereitschaft, vereinigt Gruppen und Ideologien, die widersprüchlicher kaum sein könnten – Allianzen des Absurden. Daß sich linke LGBT-Gruppen mit islamistischen Gruppen gegen die böse Mehrheitsgesellschaft verbünden, ist an Anachronismus nicht zu überbieten. Eine willkürliche Geschichtsschreibung verneint sämtliche politische, wirtschaftliche, menschenrechtliche und technologische Errungenschaften, die durch den westlichen Individualismus hervorgebracht worden sind. Die für diese Erfolge verantwortliche Befreiung des Menschen aus zahlreichen Abhängigkeiten im Sinne der Aufklärung wird dabei nicht positiv gesehen; Im Gegenteil: der Großteil der eigeninitiativen Menschen wird als verdächtig betrachtet. Die woke Philosophie geht von einer Masse von Menschen aus, die geführt werden müssen. Die Verantwortlichkeit des Menschen für sein individuelles Handeln soll abgewickelt und einem neuen Kollektivismus zugeführt werden. Die auto-aggressive Selbstabwertung des Westens führt dazu, dass jeder noch so grausame Feind des Westens zum Alliierten stilisiert wird. „Der heiße Kern dieser Ideologie, das unumstößliche Dogma von den westlichen Tätern und den nichtweißen Opfern schmilzt alle anderen philosophischen und historischen Erkenntnisse ein, auch die Geschichte des europäischen Judenmordes.“ (Wendt S. 165). Doch die Beziehungen zu den Opfergruppen bleibt auch bei den woken Aktivisten abstrakt. Setzen sie sich im Abstrakten für die Opfergruppe der weltweit Unseligen und Geflüchteten ein, so wollen sie diese jedoch nicht in ihrer Nachbarschaft sehen noch ihre Kinder mit den Kindern dieser Unseligen auf dieselbe Schule schicken. Woker Moralismus hat mit christlicher Güte eben gar nichts zu tun.
Die soziale Konstruktion des Geschlechts und ihre Merkwürdigkeiten
Mit der Infragestellung des natürlichen Geschlechts löst sich die naturrechtliche Grundlage unserer Zivilisation auf. Ein neuer Kosmos der Non-Binarität, der die Zweigeschlechtlichkeit in Frage stellt, fordert die Anerkennung der Diversgeschlechtlichkeit, zeigt Susanne Schröter. Männer und Frauen werden unsichtbar. Statt als Mütter werden Frauen als gebärende oder menstruierende Personen bezeichnet. Der Fußballverein Bayer 04 Leverkusen wurde bestraft, weil Fans in der Kurve ein Plakat aufhingen, auf dem stand, es gäbe nur zwei Geschlechter. Die Benennung biologischer Realität steht mittlerweile unter Strafe. Die offensichtliche äußerliche Zuschreibung des Geschlechts, die die Menschheitsgeschichte fast permanent prägt, soll unter Sanktionsdrohung unterminiert werden. Wer das subjektiv angenommene Geschlecht einer beliebigen Person X nicht erkennt und diese Person „falsch“ anspricht, soll per Gesetz bestraft werden. Gesellschaftliche Experimente im Sinne einer wie auch immer definierten Gerechtigkeit oder Gleichstellung, die sich durch massive Eingriffe in die private Sphäre der Menschen auszeichnen, haben in der Geschichte stets zu Tragödien mit zahlreichen Opfern geführt. Besonders für Jugendliche, die sich in der Pubertät ihrer Identität noch nicht sicher sind, sind die Heilsversprechen der Geschlechtsumwandler mit großen Gefahren verbunden. In zahlreichen Staaten sind in dieser Hinsicht permissive Gesetzgebungen nach negativen Erfahrungen wieder zurückgenommen worden. Die berüchtigte Tavistock-Klinik in London wurde geschlossen. Die irreversiblen operativen Eingriffe zur Geschlechtsumwandlung haben zu überproportional häufigen Suiziden geführt, da junge Menschen diese Eingriffe bereut hätten. In der Geschichte waren Eingriffe in die Sexualität oft Instrumente politischer Manipulation.
Ideologie und Lebensstil klaffen weit auseinander
Dass es sich bei der Wokeness durchaus um eine Ausgeburt praktischer Heuchelei handelt, zeigt die Tatsache, dass sich ein riesiger Widerspruch zwischen den „progressiven Haltungen“ der Woken und ihrem tatsächlichen Lebenswandel ergibt. Notorisch ist der Fall der Klimakleber, die im Februar 2023 einen Gerichtstermin schwänzten, um nach Bali in den Urlaub zu fliegen. Sie argumentierten, sie seien „als Privatpersonen“ unterwegs und nicht in ihrer Rolle als Klimakleber. Es ist auffällig, dass reiche Menschen wie die Reetsma-Erbin und Klimaaktivistin Luisa Neubauer, aber auch „Kulturschaffende“ und bekennende „Multikulturalisten“ wie Herbert Grönemeyer, darauf verzichten, in den Brennpunkten zu leben, die das direkte Resultat der von ihnen theoretisch vertretenen Ideologie sind. Der Kampf gegen den Klimawandel oder gegen „Rechts“ wird aus hermetisch abgeriegelten Villen geführt. Diese doppelten Standards einer sich moralisch gebenden Elite führen zu großer Wut bei den Menschen, die die Verachtung der „Guten“ spüren, das Land mit ihrer harten Arbeit und bürgerlichem Ethos jedoch am Laufen halten. Die normalen Bürger, die ihre Alltagswerte leben, verzichten aber in der Regel auf übertriebene Haltungsbekundungen, leben ihre Überzeugungen dafür aber konsequent und stehen offen zu den kleinen Vergnügungen wie Urlaube und kleine Geschenke zur Erleichterung des Alltags, wofür sie von den woken Haltungsfanatikern mit Verachtung gestraft werden. Der Sozialpaternalismus einer neoklerikalen Kaste spaltet die Gesellschaft und lähmt deren Leistungsfähigkeit.
Die akademische Cancel Culture
Die woke Subjektivität steht im Widerspruch zur rationalen Wahrheitssuche, wie sie die akademische Welt eigentlich charakterisieren sollte und über Jahrhunderte zu herausragenden Erkenntnisgewinnen geführt hat. Wer den populären und häufig vollkommen anti-empirischen Ansätzen wie der kritischen Rassentheorie oder dem Postkolonialismus widerspricht, der hat es in der akademischen Welt immer schwerer. Selbst seriöse Kritiker der Exzesse des Stalinismus wie der Historiker Jörg Barberowski werden an der Durchführung von Vorlesungen gehindert, weil sie dem primitiven woken Kulturmarxismus widersprechen. In den USA werden Juden an renommierten Universitäten seit dem Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 verfolgt, weil Israel als weiße, imperialistische Täternation definiert wird. Die schwarze Havard-Präsidentin Claudine Gay wurde entlassen, weil sie vor dem Kongress auf die Frage, ob der "Aufruf zum Völkermord an den Juden" an ihren Universitäten gegen Richtlinien zu Mobbing und Belästigung verstoße, nicht mit "Ja" oder "Nein" antwortete, sondern sagte: "Das kann sein, es hängt vom Kontext ab." Man kann sagen, dass die legitimen Anliegen gesellschaftlicher Gruppen zur Bekämpfung von Formen von Diskriminierung aller Art durch die Ideologie der Wokeness konterkariert werden. Mehr noch: die subjektivistische und relativistische Ideologie hat das Potenzial, die westliche Form von Demokratie und Rechtsstaat zu untergraben. Gerade für Christen sind die woken Formen eines neo-calvinistisch angehauchten Puritanismus zu verurteilen, da sie die christliche Botschaft von Schuld, Reue und Gottes Vergebung durch menschlich-selbstgerechte Tribunale in ihr Gegenteil verkehren. Auf die Dauer werden die moralistischen Scharfrichter allerdings immer öfter selber Opfer ihres eigenen Rigorismus.
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